
Ayurveda, wahrscheinlich über 5.000 Jahre Erfahrungswissen, 3.000 Jahre alte Schriften, viele wissenschaftliche Forschungsarbeiten, eine bewährte, durchgängig praktizierte Gesundheitslehre.
Für den klassisch universitär ausgebildeten europäischen Arzt stellen sich einige Hürden für das Verständnis in den Weg. Die Sprache sowie die verwendeten Begriffe aus der Humoralpathologie, die in den aktuellen Medizin-Lehrplänen nicht mehr vorkommen und ohne weitere Erklärung kaum richtig eingeordnet werden können.
Wer war F.X. Mayr?
Dr. Franz Xaver Mayr (1875-1965) war ein österreichischer Gastroenterologe, der systematisch die Diagnostik der Gesundheit, besonders des Darmtraktes, erforschte. Er sprach von Sanologie, weil er die Wichtigkeit eines gesunden Verdauungssystems für den gesamten Organismus erkannte. Er verglich den Darm mit den Wurzeln für die Pflanze Mensch. Dabei stellte er immer den Vergleich mit dem Optimalzustand an. Seine Studien veröffentlichte er in mehreren Büchern: „Studien über Darmträgheit, ihr Wesen, ihre Folgen, ihre radikale Behandlung“ 1912; „Schönheit und Verdauung“ 1920; „Fundamente zur Diagnostik der Verdauungskrankheiten“ 1921; „Wann ist unser Verdauungsapparat in Ordnung?“ 1949.
Wenn auch jeder Mayr-Arzt noch unendlich viel von der Ayurveda-Diagnostik und dem daraus abgeleiteten Wissen profitieren kann, so bietet die Mayr-Diagnostik doch für jeden Mediziner, auch den Ayurveda-Arzt, einen hochinteressanten Zugang, der sich an der Anatomie und Physiologie orientiert und ein besseres Verständnis für Darmprobleme ermöglicht.
Diagnostik nach Mayr
Schon die Bauchform und die Körperhaltung des Patienten geben uns wichtige Hinweise auf seinen Gesundheitszustand. Wenn wir den Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Bauchhöhle und der Körpersilhouette erkennen und wissen, dass sich Form und Funktion immer massiv gegenseitig beeinflussen, dann erhalten wir sehr praktische und offen sichtbare Hinweise auf den momentanen Zustand und die Leistungsfähigkeit der Verdauungsorgane. Die Bauchform entspricht ganz stark dem Platzbedarf des Darmpaketes, entsprechend seinem Tonus.
Ein entscheidendes Kriterium für einen gesunden Darm ist seine Fähigkeit, sich nach Mahlzeiten auch wieder leer machen zu können. Dazu braucht es einen guten Tonus der Darmmuskulatur (siehe Bild normotoner Darm), um die einzelnen Muskelschichten koordiniert einsetzen zu können. Jede akute Überforderung und Reizung provoziert eine Gegenreaktion: Den hypertonen, spastischen, schmerzenden Darm. Nach Wegfall des Reizes kann er sich wieder in den Normalzustand zurückbilden. Bei Fortbestand der Irritation kommt es zu einer chronischen Überforderung mit zunehmender Ermüdung, zu einem hypotonen Darm. In diesem schlaffen und erweiterten Muskelschlauch ist es feucht, dunkel, warm; der Transport stagniert, so dass optimale Bedingungen zur Fermentation oder Fäulnis von noch unverdauter Nahrung gegeben sind. Die entstehende Inhaltsvermehrung durch Gase wird dann als vergrößerter Bauch deutlich sichtbar. Ein Beweis dafür, dass die Verdauungskraft zuletzt nicht ausreichend war, um die Nahrung richtig zu verarbeiten.
Die Motilität beeinflusst also ganz deutlich das Milieu und das Mikrobiom in den einzelnen Darmabschnitten; eine Funktionsstörung resultiert in den bekannten Folgen einer Dysbiose, Störung der Schleimhautbarriere und zunächst lokaler, später systemischer Inflammation und Belastung mit Enterotoxinen.
Durch eine feinsinnige Palpation erkennt man empfindliche, irritierte Darmbereiche und deren Reaktionsweise oder eine evtl. vorhandene Abwehrspannung der Bauchmuskulatur über den betroffenen Regionen. Unsere Kursteilnehmer staunen immer wieder, wieviel sie schon nach wenigen Tagen durch die manuelle Untersuchung wahrnehmen können. Und wieviel an funktionellen Zusammenhängen ihnen entgeht, wenn sie diese Untersuchung nicht machen, weil eben diese Information nicht durch Bildgebung oder Labor ersetzt werden kann. Ergänzt schon, ersetzt nein.
Die meisten Patienten sind ebenfalls sehr dankbar für diese feinsinnige Untersuchung, ihr Arzt berührt sie und „begreift“ ihre Beschwerden. Die begleitenden Erklärungen des Arztes über die funktionellen Zusammenhänge helfen ihnen dann, die eigenen Körperwahrnehmungen und Symptome besser zu verstehen. Das wirkt psychoedukativ und fördert dadurch die Selbstwirksamkeit der Patienten bei ihrer täglichen Ernährungsabstimmung.
Die therapeutischen Grundprinzipien
Entsprechend den klassischen Heilprinzipien stehen diese 4 Punkte im Zentrum:
- Schonung bei einem überforderten Verdauungstrakt und Organismus
- Säuberung: Freimachen von Belastendem auf jeder Ebene, Unterstützung einer regelmäßigen Darmentleerung, Autophagie und Entlastung der Matrix
- Schulung der Essgewohnheiten und Achtsamkeitstraining, Bauchbehandlung zum Training der Selbstregulation der Verdauungsorgane
- Substitution bei Mangelzuständen und als Basis für optimale Stoffwechselprozesse
Diese Prinzipien lassen sich sehr gut mit anderen Therapien kombinieren, ganz besonders mit Ayurveda.
Die Bauchbehandlung
Die ärztliche manuelle Bauchbehandlung ist ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Sie folgt sanft, einfühlsam, neugierig diesem diagnostischen Aspekt. Sie bewirkt unmittelbar eine bessere Durchblutung und steigert den Lymphabfluss aus dem Bauchraum; schmerzfrei und sanft wirkt sie normalisierend auf die Motilität und den Tonus des Darmes, weshalb Mayr sie auch gerne als Darmgymnastik bezeichnete. Die Bauchbehandlung folgt dem Prinzip der Reiztherapie, nachdem der kleinste Reiz, der eine Reaktion auslöst, der Beste ist. Dabei wird auch die Wahrnehmung der Patienten geschult.
Während einer Mayr-Kur erlebt der Patient diese Zuwendung durch den Arzt praktisch täglich, was wissenschaftlich erwiesen sehr hilfreich für eine stabile Beziehung ist. Auf hormoneller Ebene aktiviert die Bauchbehandlung das Oxytocin-System, das über die Darm-Hirn-Achse auf neuropsychiatrische und gastrointestinale Störungen einwirkt. Oxytocin moduliert die Motilität, Magensekretion, Mukosaintegrität und -permeabilität. Langsame Berührungen, die fühlbar den Patienten adressieren wie bei der Bauchbehandlung, erzeugen inneres wohliges Leibgefühl. Zerebrale Oxytoxin-Neurone unterstützen u.a. regenerative Prozesse, sie erzeugen positive Stimmung und haben große Bedeutung als Sättigungshormon, besonders bei Essstörungen.
Die Ernährung
Die Ernährung muss, wie auch in der ayurvedischen Ernährungslehre, auf die individuelle Verdauungskraft abgestimmt werden. Es gilt, die individuelle Konstitution und aktuelle Beschwerden zu berücksichtigen, um eine optimale Verdauung und Wohlbefinden zu unterstützen und die Lebensenergien ins Gleichgewicht zu bringen.
Gerade zu Beginn steht bei einem überforderten Verdauungstrakt oft die Darmreinigung mit einer anfänglichen Fastenphase oder sehr leichtverdaulicher Kost im Vordergrund. Mit zunehmendem Funktionsvermögen wird auch die Ernährung komplexer, soll aber nicht überfordern. Bitterstoffe und Phytotherapeutika können diesen Prozess sehr gut unterstützen. Die Bauchform und die Haltung verbessern sich dabei mit dem Heilungsfortschritt des Darmes sichtbar und leicht zu überprüfen.
Take home in a nutshell
Die klinische Diagnostik nach Mayr gibt unaufwändig und schnell Informationen über den Verdauungstrakt. Damit eignet sie sich ideal sowohl zur Anfangsdiagnose wie auch zur Kontrolle des Ansprechens auf die Therapie.
Die Bauchbehandlung wirkt physisch und psychisch sehr unterstützend.
Der Feedbackzyklus von Sehen, Begreifen, Verstehen und Ändern ist extrem hilfreich bei der Steuerung der Ernährung, von anfänglicher Schonung bis zum Aufbau in Richtung möglichst hochwertiger, aber immer noch verdaulicher Kost.
Die Grundsätze der Mayr-Diagnostik und -Therapie, praktisch und auf das Wesentliche konzentriert, sind gut integrierbar in der Ayurveda (und vielen Therapien). Die Grundlagen dazu werden in den DFP-Fortbildungskursen vermittelt (unter www.fxmayr.com).
Dr. Sepp Fegerl ist österreichischer Mediziner mit Schwerpunkt F.X. Mayr-Medizin und ganzheitlicher Gesundheitsberatung. Er war langjähriger Klinikleiter, internationaler Referent und lehrt an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien.