„So verstehe ich meine eigene Forschung: der Mittler zwischen der Tradition und der Moderne zu sein.”
Prof. Dr. Michael Wink im Video-Interview
Als Referent beim diesjährigen Ayurveda-Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ayurveda (9.-12. Mai 2024 in Erfurt) wird Prof. Dr. Michael Wink – Naturwissenschafter im Bereich Pharmazie und molekulare Biotechnologie – über das Thema „Molekulare Wirkmechanismen bei Wirkstoffen aus ayurvedischer und europäischer Phytotherapie” sprechen. Wir haben Ihn zu seiner Forschungstätigkeit im Bereich der Heilpflanzen befragt.
Herr Prof. Dr. Wink, Sie sind Seniorprofessor an der Universität Heidelberg im Institut für Pharmazie & Molekulare Biotechnologie. Beim diesjährigen Ayurveda-Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ayurveda werden Sie einen Vortrag über molekulare Wirkmechanismen bei Wirkstoffen aus der ayurvedischen und der europäischen Phytotherapie halten. Mich interessiert vor allen Dingen erstmal ihre Arbeit im Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie. Möchten Sie uns da ein bisschen einen Einblick geben in ihre Arbeit?
Prof. Dr. Wink: Herzlichen Dank für die Einladung zum Interview. Ja ich habe seit 1989 einen Lehrstuhl für pharmazeutische Biologie an der Universität Heidelberg. Es ist der Lehrstuhl der den Pharmazeuten die Grundlagen der biogenen Arzneimittel beibringt; also die Arzneipflanzen, die Giftpflanzen und vieles andere mehr. Das ist mein Schwerpunkt. Ich selbst habe über die Pharmakologie von Arzneipflanzen und Wirkmechanismen gearbeitet, um zu verstehen wie diese multikomponenten Gemische funktionieren, die wir in Arzneipflanzen finden. Das ist mein Arbeitsgebiet. Gut jetzt bin ich seit ein paar Jahren im Ruhestand; offiziell Seniorprofessor. Das heißt, ich habe noch die eine oder andere Funktion an der Universität.
„Offenbar ist das das Geheimnis: Die Natur hat diese komplizierten Mischung optimiert, sodass synergistische Effekte auftreten.”
In Ihrer Vortragsankündigung weisen sie auf die Erkenntnis hin, dass einzelne Arzneipflanzenextrakte nicht nur additive sondern synergistische Wirkungen zeigen. Können Sie uns ein Beispiel nennen wo diese synergistische Wirkung besonders deutlich wird?
Prof. Dr. Wink: Zunächst einmal ist ja auffällig, dass wir in Arzneipflanzen – überhaupt in Pflanzen – nicht nur einen Wirkstoff haben, sondern hunderte Wirkstoffe aus verschiedenen Wirkstoffklassen. Das macht die Untersuchung in der Pharmakologie sehr schwierig, sodass traditionell der Pharmakologe eher hingeht und eine Einzelsubstanz nimmt und diese testet; aber weniger den ganzen Extrakt.
Dann haben wir uns in unserer Forschung gesagt: okay, es zeigt sich ja, dass die Extrakte wirksam sind. Kann man herausbekommen wieso diese wirksam sind? Sind es additive Effekte der einzelnen Substanzen oder gibt es synergistische Effekt? Das heißt: gibt es eine Potenzierung von einzelnen Substanz oder Substanzgruppen mit anderen? Das scheint in der Tat der Fall zu sein, obwohl dieses Thema noch nicht so richtig gut untersucht ist.
Ich möchte ein Beispiel nennen: Es gibt eine Pflanze – Kornrade – die giftige Samen besitzt. Die Samen gelten als Zellgift, also zytotoxisch. Gibt man einen Gesamtextrakt in eine Zellkultur, sieht man, dass die Zellen mit einer ziemlich hohen Potenz umgebracht werden. Fängt man dann als Phytochemiker an diese Samen auseinanderzunehmen, hat man eine Fraktion mit Saponin und eine Fraktion mit Lektin, das sind giftige Proteine. Gibt man jetzt diese Einzelsubstanzen in eine Zellkultur, dann sind die Saponine ein bisschen aktiv und die Lektine überhaupt nicht aktiv. Jetzt weiß man aber: die Lektine sind der eigentliche Giftstoff. Wenn man jetzt hingeht und eine kleine Menge Saponin zu dem Lektin gibt, dann ist plötzlich ein synergistischer Effekt vorhanden: Eine Stärkung der Toxizität um den Faktor 100 bis 500. Nur wie kann man das erklären? Die Saponine wirken an den Biomembranen, sie machen offenbar kleine Poren in unsere Biomembranen und durch diese Biolöcher können dann die Lektine – die normalerweise nicht durch Biomembranen diffundieren können – hindurchkommen. Dann kommen Sie in die Zelle und können dort die Proteinbiosynthese hemmen. Also wir gehen davon aus – und das haben wir in einigen Experimenten gezeigt – dass die Saponinfraktion, die in fast allen Arzneipflanzen vorkommt, eine solche synergistische Wirkung hat, indem sie die Aufnahme von polaren Substanzen verbessert. Polare Substanzen von Arzneipflanzen – häufig phenolische Substanzen, Gerbstoffe und andere – kommen normalerweise nicht in die Zellen. Aber wenn sie parallel mit den Saponinen in eine Pflanze kommen, kann es zu Aufnahmen führen.
Das zeigt, dass es sehr wichtig ist, dass man die Komplexität eines Arzneiextraktes betrachtet. Und nicht nur – wie man es klassischerweise als Pharmazeut machen würde – sagt: ich nehme die Inhaltsstoffe auseinander und nehme dann nur eine Fraktion. Das ist eine der naiven Forderungen: Warum macht der so komplizierte Mischungen? Macht’s einfacher. Offenbar ist das das Geheimnis: Die Natur hat diese komplizierten Mischung optimiert, sodass synergistische Effekte auftreten.
Das ist nur ein Beispiel, wahrscheinlich gibt’s noch viel mehr, die wir in der Form auch noch gar nicht untersucht haben. Denn im Labor ist das sehr anspruchsvoll, das herauszufinden.
Interessant! Wie viele von solchen synergistischen Effekten haben Sie gefunden?
Prof. Dr. Wink: Eine ganze Reihe von Effekten; also gerade mit Saponinen haben wir gearbeitet, wir haben mit Monoterpenen gearbeitet … Und auch da zeigt sich, dass, obwohl wir diese alle – chemisch gesehen – in eine Klasse packen, wenn man verschiedene Monoterpene miteinander kombiniert, kann dies die Wirkung steigern.
Wir haben das auch bei antibiotischer Wirksamkeit gesehen, dass, je nachdem was wir kombinieren, plötzlich ein Gemisch stark antimikrobiell wirkt. Zum Beispiel auch bei Bakterien die gegen Antibiotika resistent sind. Es liegt wahrscheinlich ein großes Geheimnis darin, die richtigen Kombinationen herauszufinden.
Nun hat die Volksmedizin das zum Teil selbst, rein über Erfahrungswissen, bereits gemacht, indem sie verschiedene Arzneipflanzen kombiniert hat. Insbesondere in der chinesischen Medizin und im Ayurveda kombiniert man Pflanzen. Und wir wissen zwar nicht warum das so ist, aber die Empirie zeigt: Ja es wirkt besser. Und wir können an einigen Beispielen die Mechanismen aufzeigen, warum es besser wirkt.
„Das ist wahrscheinlich einer der Hintergründe warum es diese traditionellen Zubereitungsformen gibt, die für uns manchmal etwas seltsam anmuten. Auf diese Weise kann die Wirksamkeit gesteigert werden.”
Besonders im Ayurveda wird ja auch ein großes Augenmerk gelegt auf die Verarbeitung. Wenn Pflanzen kombiniert werden, werden diese teilweise gekocht, getrocknet, verschiedenen – auch teilweise über Monate – Prozessen ausgesetzt. Haben sie da ein paar Gedanken dazu, warum das so wichtig ist?
Prof. Dr. Wink: Es entscheidend welcher Wirkstoff nachher in einem Extrakt vorliegt. Und die Verarbeitung kann eine Menge bewirken. Zum Beispiel haben wir bei Pflanzen eine ganze Menge sogenannter Prodrugs vorliegen, also Wirkstoffe, die inaktiv in der Pflanze vorliegen – häufig in der Vakuole. Beispiele sind die Cyanogene Glycoside oder die Senfölglykoside und viele andere mehr. Diese werden in der Pflanzenzelle gespeichert und nur wenn die Pflanzenzelle verletzt wird, dann kommen Enzyme dazu und die Zucker werden abgespalten und der eigentliche Wirkstoff entsteht.
Wenn ich einen Pflanzenextrakt durch Alkohol extrahiere, dann kommt diese enzymatische Reaktion nicht zustande. Erstelle ich aber einen wässrigen Extrakt und lasse ihn stehen, dann läuft diese Reaktion ab und ich bekomme tatsächlich einen wirksameren Extrakt als vorher.
Das ist wahrscheinlich einer der Hintergründe warum es diese traditionellen Zubereitungsformen gibt, die für uns manchmal etwas seltsam anmuten. Auf diese Weise kann die Wirksamkeit gesteigert werden. Nicht bei allen, aber bei vielen.
Phytotherapie und moderne Wissenschaft, das ist sicher auch ein ein sehr spannendes Thema für die Teilnehmenden des Ayurveda-Kongresses. Wie haben sie entdeckt, dass es Ähnlichkeiten gibt zwischen den Wirkstoffen der ayurvedischen und der europäischen Phytotherapie?
Prof. Dr. Wink: Zunächst einmal: Wenn man sich die Pflanzen anschaut, die in der ayurvedischen Medizin benutzt werden und welche bei uns, gibt es eine Übereinstimmung von fast 80 Prozent. Viele Pflanzen der Ayurveda-Medizin werden auch in der europäischen Phytotherapie eingesetzt. Das der eine Punkt. Oder es werden Pflanzen eingesetzt die sehr ähnlich sind. Wir wissen: sehr ähnliche Pflanzen haben auch häufig sehr ähnliche Wirkstoffe, also Sekundärstoffe.
Ich habe mich vertieft mit dem Thema auseinandergesetzt, weil wir gerade ein Lehrbuch zur Ayurveda-Medizin neu auflegen, wo der Vergleich gemacht wird zwischen europäischer Medizin und Ayurveda-Medizin.
Gut, das ist der eine Aspekt: die Pflanzen sind ähnlich oder gleich. Aber vor allen Dingen ist der nächste Aspekt wichtig: die Wirkstoffe in den Pflanzen ähneln sich. Wir haben als große Wirkstoffgruppen einmal die terpenoiden Verbindungen, also Monoterpene, die flüchtig sind, oder Triterpene oder Saponine, die nicht flüchtig sind. Das gemeinsame Merkmal dieser Substanzen ist, dass sie ein Biomembran angreifen. Sie wirken antimikrobiell, gehen auf Ionenkanäle, machen Membrane leaky und anderes mehr. Und stets ist die Wirkung da – egal in welcher Pflanze sie vorkommen. Und diese Wirkung ist insbesondere wichtig für antimikrobielle Eigenschaften oder zum Beispiel bei Spasmen. Man kann im Prinzip vorhersagen: wenn ich die Inhaltsstoffe kenne, kann ich schon ahnen, welche pharmakologische Wirkung rauskommt.
Die nächstgrößte Stoffgruppe sind die phenolischen Verbindungen, sind die Flavanoide; das sind die Gerbstoffe, die komplexen Gerbstoffe und andere mehr. Diese greifen generell alle Proteine an, die man so kennt, und modulieren deren Eigenschaften. Dadurch erhalten wir antientzündliche Wirkung, antimikrobielle Wirkung, wir haben antioxidative Wirkung. Und auch da ist es so: egal in welcher Pflanze sie vorkommen, sie wirken sehr ähnlich. Wir haben über die Inhaltsstoffe ein gemeinsames Wirkspektrum, auch zwischen verschiedenen Ayurveda-Pflanzen und den europäischen Pflanzen.
Das werde ich in meinem Vortrag etwas erörtern. Dass wenn man das ganze auf Targets und Wirkmechanismen reduziert, sieht man enorm viel Übereinstimmung. Obwohl natürlich die Medizinsysteme komplett unterschiedlich sind. Das ist ja das Überraschende.
Das ayurvedische Medizinsystem sieht nach außen hin völlig anders aus als das europäische. Aber die gemeinsame Basis sind die Wirkstoffe mit gemeinsamen Wirkmechanismen, die wir sowohl in den ayurvedischen Pflanzen als auch in unseren Pflanzen finden.
Die beiden Medizinsysteme erscheinen erstmal sehr unterschiedlich, aber doch sind die Gemeinsamkeiten groß. Und die westliche Medizin und die ayurvedische Medizin harmonieren auch gut miteinander.
Was natürlich auch wichtig ist: wir haben sogenannte Multitarget-Wirkstoffe. Das heißt, diese greifen nicht nur an einer Stelle an, wie unsere modernen Pharmaka, sondern sie greifen an sehr sehr unterschiedlichen Bereichen an. Es sind häufig Proteine, die auch bei Krankheitsprozessen beteiligt sind. Also es ist letztendlich ein unselektives Verfahren, aber dennoch: im Krankheitsfall kann es funktionieren – nicht immer, aber bei vielen Krankheiten funktioniert es.
Also zum Beispiel eine Magen-Darm-Störung kann man bestens behandeln, Erkältungskrankheiten kann man sehr gut behandeln, da ist es eigentlich egal ob das selektiv ist oder nicht. Aber es ist natürlich ein Paradigma: in der Pharmakologie möchte man selektive Wirkstoffe haben, die nur an einen Rezeptor / ein Target gehen. Aber vieles andere geht auch ohne dieses selektive Denken. Dinge wie Biomembranen, die sind überall, sind nicht selektiv. Wenn ich diese im Krankheitsprozess beeinflusse – das sehen wir bei Mikroorganismen – dann funktioniert es trotz allem.
Also das ist eigentlich so das Gemeinsame, was uns Hoffnung gibt, dass wir irgendwann verstehen werden, warum eigentlich solche Arzneipflanzen überhaupt wirksam sind; klinisch von Bedeutung sind.
Es gibt die Meinung, dass Heilpflanzen eine gewisse Wirkung haben, die ganzheitlich ist – im Sinne von, dass sie weniger Nebenwirkungen haben können. Wie sehen Sie das?
Prof. Dr. Wink: Es kommt auf die Heilpflanze an. Wir haben natürlich Arzneipflanzen wie Digitalis oder Atropa; die haben enorme Wirkungen und enorme Nebenwirkungen. Also überall dort wo wir Wirkstoffe haben, die am Nervensystem angreifen, also ionenkanalhemmend, pumpenhemmend oder Neurorezeptoren, da haben wir starke Wirkung aber auch starke Nebenwirkung.
Nun setzt die europäische Phytotherapie und auch die ayurvedische Medizin hauptsächlich Pflanzen ein, die diese Inhaltsstoffe nicht haben. Sie kennt sie auch, aber es werden in der Regel Pflanzen eingesetzt die Terpene und Polyphenole haben. Und da haben wir deutlich weniger starke Nebenwirkungen. Aber die ist natürlich dosisabhängig. Wenn ich zu viel davon nehme, habe ich auch da Nebenwirkungen. Aber in in der therapeutischen Dosis habe ich wenig Nebenwirkung, aber sehr häufig einen unterstützenden therapeutischen Effekt.
Sie hatten erwähnt, dass es ähnliche Pflanzen gibt in der europäischen Phytotherapie und in der ayurvedischen. Können Sie uns 1-2 Beispiele nennen von ähnlichen Pflanzen?
Prof. Dr. Wink: Sehr viele Pflanzen sind identisch. Ob sie Löwenzahn nehmen, ob sie Wunderblumen nehmen ob sie Artemisia nehmen: die sind gleich. Aber da gibt’s eine Pflanze in der Ayurveda-Medizin, Withania Somnifera, die kennen wir in Europa auch, aber sie wird bei uns weniger in der Therapie eingesetzt. Das wäre so ein Beispiel wo tatsächlich einige Sonderfälle sind, wo nur die Ayurveda-Medizin die Pflanze besonders schätzt. Davon haben wir einige, aber es sind nicht so viele, wie man annehmen würde. Die Pflanzen-Namen der Ayurveda-Medizin klingen für uns sehr komplex und anders, aber dahinter steckt oft dieselbe oder eine verwandte Pflanze.
Welche Pflanzen gibt es, die ähnlich sind? Kann man z.B die Amlafrucht und eine Stachelbeere miteinander vergleichen?
Prof. Dr. Wink: Durchaus, ja. Bezüglich Ähnlichkeit … das fängt an bei Artemisia-Arten: Diese werden bei uns genauso eingesetzt. Oder Ginseng oder Ingwer. Das sind zwar keine europäischen Pflanzen, aber die werden in all den Systemen genauso benutzt wie bei uns. Das heißt also: wir haben eigentlich über Empirie eine ganze Menge Übereinstimmung.
Und natürlich Austausch, das darf man nicht vergessen. Seit Jahrtausenden werden Arzneipflanzen weltweit gehandelt und verschickt. Alles was sich bewehrt hat wurde übernommen. Wir haben Pflanzen aus Asien übernommen, Asien hat Pflanzen aus Europa übernommen.
Und zusätzlich sind viele Pflanzen in der eurasischen – also der Nordhemisphäre sehr weit verbreitet, das kommt noch hinzu. Das heißt, wenn ich Schöllkraut habe, das gibt’s bei uns, das gibt’s in Asien, das gibt’s bis nach China … und viele andere mehr. Es sind also viele Pflanzen die in verschiedenen Kulturkreisen vorkommen. Oder in einer anderen Art vorkommen, aber nahezu identisch sind.
Im Ayurveda wird die Auswahl der richtigen Heilpflanzen oft auch über die Pulsdiagnose gemacht, dass man schaut: was liegt für ein Ungleichgewicht vor und welche Pflanze könnte den Ausgleich dann bringen. Lässt sich aus ihrer Sicht der molekularen Wirkmechanismen die Auswahl der richtigen Arzneipflanzen für verschiedene medizinische Indikationen bestimmen?
Prof. Dr. Wink: Ob es mit der Pulsdiagnostik geht, das weiß ich nicht. [Anmerkung: Prof. Wink praktiziert die ayurvedische Pulsdiagnostik selbst nicht.] Ich glaube der Therapeut möchte herausfinden: „Was ist die Grunderkrankung? Ist es eine Infektion? ist es eine Entzündung? Ist es eine Herzkreislauferkrankung? … und so weiter. Wenn er das weiß, dann hat er aus therapeutischer Sicht passende Pflanzen. Wenn er weiß: das ist eine Entzündung, dann wird er überlegen: dann brauche ich Pflanzen mit entzündungshemmender Wirkung. Das sind z.B viele Pflanzen mit phenolischen Inhaltsstoffen oder mit Terpenen. Oder wenn ich weiß, ich habe eine bakterielle Infektionskrankheit, dann gehe ich mehr auf die Terpenen-Eben; oder kombiniert mit Polyphenol.
Wenn ich auf Herz-Kreislauf gehe, dann muss ich natürlich schon mehr wissen. Dann muss ich vielleicht an Digitalis denken oder an andere Pflanzen. Also das heißt, als Diagnostiker muss ich mit ein Bild davon machen was dem dem Kranken fehlt. Was ist die Grunderkrankung? Und dann überlegen welche Pflanzen kämen in Frage und wie kombiniere ich sie. Aber da kommt eben das Wissen, die Erfahrung mit rein. Nicht alles ist sinnvoll, aber vieles geht.
Und die Natur ist sehr freundlich zu uns. Wir können vieles kombinieren, auch wenn wir vielleicht gar nicht ahnen, dass man sie kombinieren kann. Weil sie sehr viele gemeinsame Mechanismen haben. Ich habe ja gesagt: wir reden über phenolische Inhaltstoffe, Terpene, die sehr ähnliche Wirkmechanismen aufweisen.
Welche Ressourcen würden sie Menschen in Heilberufen empfehlen, die ihre Kompetenz in der Phytotherapie erweitern möchten?
Prof. Dr. Wink: Was vielen Medizinern nicht klar ist: die Ausbildung in Arzneipflanzen ist eine Domäne der Pharmazeuten. Pharmazeuten lernen sehr intensiv die Bestandteile der Arzneipflanzen, der Inhaltsstoffe und der Wirkmechanismen kennen. Während im Medizinstudium das Ganze eher vernachlässigt wurde … leider!
Es gibt – und das ist das Wichtige – eine Menge Lehrbücher im Bereich Pharmazie die diese Themen wunderbar abhandeln. Die heißen häufig „Lehrbücher der pharmazeutischen Biologie”, bei denen der Mediziner vielleicht nicht ahnt, dass das eigentlich Lehrbücher sind, in denen steht, wie man Phytotherapie bzw. Arzneipflanzen einsetzt. Einige Bücher heißt auch „Lehrbuch der Phytotherapie”, aber sehr häufig heißen sie „Lehrbuch der pharmazeutischen Biologie”. Da findet man dieses Wissen. Wenn man Information sucht, die naturwissenschaftlich fundiert sind, findet man das in pharmazeutischen Lehrbüchern.
Sie haben bereits erwähnt, dass sie sich mit der Neuauflage eines Buches befassen. Meines Wissens nach ist es das Buch „Heilpflanzen der ayurvedischen und der westlichen Medizin” von Dr. Schrott und Professor Dr. Ammon. Können Sie dazu ein bisschen etwas sagen und gibt es Inhalte die neu hinzukommen?
Prof. Dr. Wink: Bei diesem Buch ist es so, dass Dr. Schrott ja inzwischen verstorben ist und daher nicht mehr zur Verfügung steht. Deshalb hat Herr Dr. Schachinger die Rolle (des Ayurveda-Arztes) übernommen. Bei diesem Buch ging es im Wesentlich darum – weil es 20 Jahre alt ist – es auf den neuesten Stand zu bringen; neue Erkenntnisse aus experimentellen Forschungen hinzuzufügen, Inhaltsstoffe bezüglich pharmakologischer Wirkung zu ergänzen und letztendlich auch noch mal – und das ist mein Part – sehr viel stärker die molekularen Wirkmechanismen herauszuarbeiten. Die Neuauflage des Buches wird, wenn ich das richtig sehe, in diesem Jahr hoffentlich fertig werden und erscheinen.
„Ich glaube wir machen einen Fehler, wenn wir auf dieses traditionelle Wissen verzichten; wenn wir auf die Arzneipflanzen verzichten.”
Wenn Sie versuchen ein kleinen Blick in die Zukunft zu werfen – die Verbindung von Ayurveda und westliche Medizin – welche Gedanken haben sie dazu?
Prof. Dr. Wink: Das Thema heißt: wie gehen wir mit traditioneller Medizin um? Es gibt Strömungen die sagen: Es ist wunderbar, das machen wir intensiv weiter. Es gibt aber auch Strömungen, die sagen: das ist alles Hokuspokus, das lassen wir sein. Weil da schnell auch die Diskussion aufkommt „Das ist Homöopathie und das wird nicht abgegrenzt.” Aber das ist sehr viel komplizierter.
Ich glaube wir machen einen Fehler, wenn wir auf dieses traditionelle Wissen verzichten; wenn wir auf die Arzneipflanzen verzichten.
Denn es gibt eine Menge banaler Erkrankung, bei denen Arzneipflanzen unterstützend wirksam sein können, damit der Patient wieder gesund wird; die Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren und anderes mehr. Denn wir müssen nicht gleich mit einem sehr starken Medikament rangehen, bei dem die Nebenwirkung stärker sind. Also ich glaube die Phytotherapie hat eine große Zukunft.
Und wenn wir nach Asien schauen, da sieht man, dass die Herangehensweise nicht so strikt ist wie bei uns. Bei uns trennen sich die Welten zwischen Naturheilverfahren und den anderen Verfahren. Wenn ich in nach China und auch nach Indien gehe, da sieht man: das läuft parallel. Die werden zum Teil kombiniert. Es ist kein so starker Widerspruch, wie er bei uns in der westlichen Welt aufgebaut wird.
Wobei man auch sagen muss: Zentraleuropa hat noch sehr viele Wurzeln in der Pflanzenmedizin. In England ist es schon weniger und in den USA ist es fast komplett weg. Also auch da muss man sehen: es kommt darauf an welche Ecke der Welt man betrachtet. In Asien, glaube ich, wird auch in Zukunft die Welt der Phyto-Heilmittel nutzen. Nicht von allen akzeptiert, aber von vielen.
Was wir natürlich bräuchten wäre eine bessere Ausbildung der Mediziner, damit Sie auch wissen welche Alternativen bestehen. Und unsere Aufgabe als Naturwissenschaftler ist, eine naturwissenschaftliche Basis zu legen. Wenn wir sagen: „Das ist kein Hokuspokus, sondern das sind Wirkstoffe, die wirken an Targets, an Wirkmolekülen; wir verstehen den Mechanismus.” So verstehe ich meine eigene Forschung: der Mittler zwischen der Tradition und der Moderne zu sein.
Die Deutsche Gesellschaft für Ayurveda möchte auch eine Brücke bauen zu Medizinern, die noch nicht so viele Berührungspunkte mit der Phytotherapie und dem Ayurveda hatten. Sie möchte beides zusammenzubringen. Und wie Sie auch sagen: Forschung wäre sicher ein wichtiges Thema. Wie könnte man erreichen, dass es mehr Forschung im Bereich Ayurveda gibt?
Prof. Dr. Wink: Man muss leider sagen, dass das Thema Forschung über Arzneipflanzen eher rückläufig ist als progressiv. Gerade in den Naturwissenschaften gibt es so viele – in dem Sinne – „spannendere” Themen … die Genomforschung, Transkriptomforschung … Sodass viele junge Wissenschaftler sagen: Dann beschäftige ich mich lieber mit einem ganz modernen Gebiet und kann etwas Neues machen, als dass ich ein eher traditionelles Gebiet bearbeite.
Dann kommt noch hinzu, dass wir über komplexe Gemische reden und diese sind sehr schwer zu bearbeiten und gelten sie als nicht ganz so sauber definiert wie ein Reinstoff. Also es gibt da auch Hemmung an soetwas heranzugehen. Es ist viel komplexer, viel schwieriger.
Gut, das ist der eine Punkt. Also die Forschungsgrundlage ist sehr komplex.
Und dann ist natürlich die Frage der Forschungsförderung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), über die wir normalerweise Geld bekommen, lehnt im großen Stil Forschung über Arzneipflanzen ab, weil sie sagen: das ist angewandte Forschung, das ist nicht unser Thema. Da wird Ayurveda dann auch darunterfallen.
Und umgekehrt: die Gesellschaften selbst haben nicht genug Geld um sowas zu finanzieren und die Industrie hat auch nur ein begrenztes Interesse. Das Interesse ist da eher vorhanden, aber dann haben wir natürlich wiederum den Interessenskonflikt mit einem Auftraggeber, der unter Umständen für den Akademiker schwierig ist.
Also eine relativ schwierige Ausgangssituation.
„Das heißt es ist nicht „top down” sondern „bottom up”, wie das Ganze laufen kann.”
Sehen Sie trotzdem irgendwo ein Hoffnungsschimmer? Weil gerade auch für die Deutsche Gesellschaft für Ayurveda das ein wichtiges Thema ist: die Forschung mehr zu fördern in dem Bereich, weil dadurch die Validierung erfolgt und dann Mediziner dem Ayurveda mehr vertrauen können.
Prof. Dr. Wink: Der Hoffnungsschimmer sind die Patienten, weil im Patientenbereich ist tatsächlich sehr viel mehr Toleranz da gegenüber Arzneipflanzenkunde und Arzneipflanzen generell; europäische sowie asiatische oder TCM. Also da habe ich die Hoffnung, dass quasi die Kranken selbst sagen: „Ich möchte es aber ausprobieren.” Das heißt es ist nicht „top down” sondern „bottom up”, wie das Ganze laufen kann. Das gibt mir Hoffnung.
Und wie gesagt, wenn ich über die Grenzen schaue, wenn ich nach China schaue, nach anderen Ländern in Asien schaue, über dort ist das Thema nach wie vor extrem wichtig. Auch in Indien ist es nach wie vor eine zentrales Thema; viel bewusster als bei uns. Also ich glaube die Menschheit arbeitet schon seit vielen tausend Jahren damit, sie wird auch wahrscheinlich weiter damit arbeiten da bin ich mir relativ sicher.
Wahrscheinlich! Wir freuen uns sehr, dass Sie mit dabei sind beim Kongress Haben sie schon Erwartungen oder etwas worauf Sie sich besonders freuen bezüglich den Ayurveda-Kongress?
Prof. Dr. Wink: Das für mich natürlich auch eine andere Welt. Ich bin gespannt was ich lernen und was ich verstehen werde … um auch diese komplexe Sprache der Ayurveda-Medizin besser abschätzen zu können. Also ich freue mich schon auf den Kongress!
Prima! Vielen Dank, Professor Wink, für das Interview.
Prof. Dr. Wink: Gerne geschehen, Herr Hotz.
Das Interview wurde im April 2024 von Michael Hotz geführt, der das Marketing der Deutschen Gesellschaft für Ayurveda und der Deutschen Ayurveda Akademie betreut.